Jura ist keine Mathematik



Ganz einfach.

 

Für einen Juristen, der gerade von der Uni kommt, ist es ganz einfach:

Wenn etwas in der Welt seine Aufmerksamkeit erhält, nennt er das einen Sachverhalt.

Er kann dann in einem Gesetz blättern und einen Paragraphen oder einen Artikel, kurz: eine Norm wählen, die passend erscheint. Die Voraussetzungsseite dieser Norm ist für ihn ein Tatbestand.

Schafft es unser Jurist jetzt, den Sachverhalt mit der Norm in Einklang zu bringen (juristisch: Subsumtion = Unterordnung), bekommt er zur Belohnung eine oder mehrere Rechtsfolgen.

 


Ziemlich schwierig.

 

Die beiden Hauptprobleme liegen auf der Hand:

1. Der Sachverhalt wird nur durch das ausgemacht, was Aufmerksamkeit bekommen hat.

Erzählt ein Mandant einem Anwalt nur seine Sicht der Story, hat dieser Anwalt einen unvollständigen Sachverhalt vor sich. Erzählt der Gegner dieses Mandanten seinem Anwalt (s)einen anderen Teil des Geschehens, sieht auch dieser nur einen unvollständigen Sachverhalt.

 

2. Der Tatbestand einer Norm ist häufig keineswegs eindeutig.

Wenn er z.B. ein „sittenwidriges“ Verhalten voraussetzt, um zu seiner Rechtsfolge (z.B. einem Schadensersatzanspruch) zu kommen, braucht es eine Interpretation des Begriffes „Sittenwidrigkeit“ (juristisch: Auslegung).

 


Auslegung und Zauberei (oder umgekehrt)

 

Der geschulte Jurist packt dann allerlei „Auslegungsmethoden“ aus (den Wortsinn, die systematische Stellung des Begriffes und der Norm, die Gesetzgebungsgeschichte etc.) und „findet“ mit deren Hilfe eine zutreffende Bedeutung.


Die Wahrheit ist: Es ist wie mit dem Zauberer, der ein Kaninchen aus einem vormalig leeren Zylinder holt - wir wissen vielleicht nicht, wie das Kaninchen da rein gekommen ist, aber wir wissen genau, dass der Zauberer das irgendwie selbst gemacht hat.


Und genau so funktioniert Auslegung. Man kann aus einem Begriff nur etwas herausholen, was man vorher (per Vorverständnis) in diesen Begriff hineingetan hat. Geprägt werden solche Vorverständnisse u.a. von Erläuterungen in juristischen Kommentaren oder Gerichtsentscheidungen und dem Herkommen des Auslegenden.


Gut möglich, dass zwei Anwälte und ein Richter drei Meinungen haben, wie ein Begriff zu verstehen ist. (Die vierte Meinung gibt es dann in der zweiten Instanz.)

 


Unberechenbar.

 

In der Praxis ist daher oft ein von mehreren Personen subjektiv verschieden konstruierter Sachverhalt mit einem von mehreren Personen subjektiv verschieden verstandenen Tatbestand zusammenzuführen.

 

Das klingt hoffentlich so kompliziert, wie es ist.

 

 


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